Hauptsymposium I
Migration und Identität - Musikalische Wanderbewegungen seit dem Mittelalter und ihr Einfluss auf die Kompositionsgeschichte
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Mittwoch, 3. November 2010
9.00 - 17.30 Uhr
DHI Rom, großer Vortragssaal
Programm
09.00 Begrüßung
Chair: Andreas Gestrich (London)
09.15 Theoretische und methodologische Fragen der Migrationsforschung
Pieter C. Emmer (Leiden)
09.45 Musikwissenschaft und Migrationsforschung. Einige allgemeine
Überlegungen
Silke Leopold (Heidelberg)
10.15 Kaffeepause
Chair: Alexander Koller (Rom)
10.45 Migration im Spiegel liturgischer Bücher
Anke Bödeker (Rom/Würzburg)
11.15 Migration und Madrigal. Musikalische Wanderbewegungen und das
Cinquecento-Madrigal in Florenz und Rom
Sabine Ehrmann-Herfort (Rom)
11.45 Die Rhedigerische Bibliothek in Breslau als Zeuge der europäischen
Migration des italienischen Stils
Tomasz Jeż (Warschau)
12.30 Mittagspause
Chair: N.N.
14.00 »nach der jetzigen Newen Italienischen Manier zur guten Art im singen
sich gewehnen«: How Italian Noble Singing Style Conquered the World
Richard Wistreich (Manchester)
14.30 Migration, Transfer und Gattungswandel: ein neuer Blick auf die
Geschichte der Oper im 18. Jahrhundert
Michele Calella (Wien)
15.00 Identità culturali allo specchio. L'immagine musicale di Italia e Germania
all'inizio del XIX secolo
Luca Aversano (Rom)
15.30 Kaffeepause
16.00 »Il Padre Eterno della musica italiana« - »In unserem Deutschland zu
Hause«. Die Konstruktion eines nationalen Palestrina im deutschen und italienischen Rundfunkprogramm 1925
Mauro Bertola (Heidelberg)
16.30 Mobilität und Kulturtransfer in Prozessen musikkultureller Migrationen
zwischen Europa und Südasien
Lars-Christian Koch (Berlin)
17.00 Zusammenfassung und Schlusskommentar
Andreas Gestrich (London)
Kleine Ausstellung zum Thema »musikalische Reiseberichte«
Christine Streubühr
Abstracts
Pieter C. Emmer (Leiden): Theoretische und methodologische Fragen der Migrationsforschung
Migration was one of the main components of the »European miracle«, the Sonderweg of Europe after 1500. Unlike Asia, Africa and Amerindian America, Europe allowed its inhabitants to migrate as individuals. In addition, Europe also experienced group migration caused by environmental factors, wars or expulsion, but the individual migrant made the difference.
It was individual migration that allowed for the rapid economic growth and the development of large cities in Europe such as Paris, Madrid, London, the North of Italy and Holland. Between 1500 and 1800 the main migration was inter European, and not directed towards other continents. These migration movements were both seasonal and permanent. These individual migrants allowed for the development of capitalist agriculture in Western Europe and for a sizeable service sector such as soldiering and seafaring. Until 1800 the majority of the migrants in Europe were either those, who moved from the countryside to the towns or those, who migrated in order to become soldiers and sailors. It would be a mistake to underestimate the mobility in Europe before 1800. Parish records in the UK reveal that about 40% of the population did not die in the place where they were born.
However, there were large differences in mobility between the European states. The population of Portugal and the British Isles were far more mobile than the inhabitants of France or the Netherlands. Seasonal migration constituted an important factor and allowed those living in marginal agricultural areas to remain in place.
Intercontinental migration did not become important until after 1800, when more than 60 million Europeans migrated to other continents, mainly to North America. However, the internal migration in Europe remained even larger and until 1850 Central Europe continued to send most of its migrants to Eastern Europe and not to the New World.
The Industrial Revolution allowed many more people than before to remain in place. After 1900, migration became a sign of economic despair rather than of economic advancement.
Silke Leopold (Heidelberg): Musikwissenschaft und Migrationsforschung. Einige allgemeine Überlegungen
Musikgeschichtsschreibung ist traditionell eine nationale und eine konfessionelle Angelegenheit. Die Aufteilung nach Ländern oder zumindest Regionen gehört zu den am häufigsten gewählten Dispositionen musikhistorischer Überblicksdarstellungen. Neben zahlreichen Büchern über die Geschichte der katholischen oder die Geschichte der evangelischen Kirchenmusik findet sich keines, in dem die Geschichte der Kirchenmusik konfessionsübergreifend dargestellt würde. Besonders deutlich wird das Konzept einer Musikgeschichte als nationale Aufgabe bei den Gesamtausgaben, die zumeist (Ausnahmen bestätigen die Regel) in den Ländern finanziert und erarbeitet werden, aus denen die Komponisten stammen – Bach in Deutschland, Monteverdi in Italien, Purcell in England, Rameau in Frankreich, Rachmaninow in Russland usw.
Diese »nationale« Brille hat gravierende Auswirkungen. Komponisten, die nationale wie konfessionelle Grenzen überschritten, wird deutlich weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Das beginnt bei den Editionen: Für Musiker wie etwa Biagio Marini oder Johann Adolf Hasse fühlt sich keine nationale Wissenschaftsorganisation so recht zuständig. Das setzt sich fort in den musikhistorischen Darstellungen, in denen musikalische Migranten bestenfalls unter den Orten abgehandelt werden, an denen sie wirkten, statt die Migration und ihre Auswirkungen auf die Kompositionsgeschichte als solche zu thematisieren. Und das endet bei den Skrupeln, die konfessionelle Durchlässigkeit der Musik in einer Welt konfessioneller Grenzziehungen zur Kenntnis zu nehmen.
In meinem Referat möchte ich die Probleme, die sich daraus für unser Verständnis von Musikgeschichte ergeben, und mögliche Lösungswege aus dem Dilemma diskutieren, dass die seit Jahren blühende Migrationsforschung die Musikgeschichte bisher ausgeklammert hat.
Anke Bödeker (Bonn): Migration im Spiegel liturgischer Bücher
Der Vortrag wird schlaglichtartig Migration im Mittelalter anhand einzelner Neugründungen von Klostergemeinschaften in Italien erhellen und sich der Frage widmen, inwieweit die neuen Institutionen Einfluß auf die Kirchenmusik der Zeit genommen haben. Neben diese Form von Migration und eng damit verbunden, tritt jene Sonderform, die reisende Mönche im Mittelalter darstellten. Deren Anlaufstellen waren die Klöster, in denen sie unterschiedlich lang Rast machten. Damit kommt den Klöstern eine doppelte Bedeutung im Sinne der Migration und des damit verbundenen Kulturtransfers zu, da die Klöster zu einem regelrechten Umschlagplatz unterschiedlicher Bildungsinhalte wurden.
Eine Erfassung der geographischen Mobilität liegt für das Mittelalter nicht vor, und kann aufgrund fehlender Quellen vielleicht auch nicht erstellt werden. Sicher ist sie aber höher einzuschätzen als lange Zeit angenommen. Zeugnis über Reisen können transferierte Objekte geben; indirekt auch solche Quellen, die fremdes Gut sich einverleibten und so der Adaptionsphase des Kulturtransfers angehören. Der Vortrag wendet sich in Ermangelung von selbst gewanderten Büchern, jenen transferierten musikalischen Komponenten zu, die sich in den lokal angefertigten neumierten Liturgica aufspüren lassen. So wird dem Wechselspiel zwischen Altem und Neuem, der Tradition und dem aus der Fremde Übernommenen in den musikalischen Quellen einzelner Klöster Oberitaliens nachgegangen. Zu erwarten sind Einblicke in eine von Migration und Kulturtransfer beeinflußte und sich dadurch wandelnde Gesangspraxis im Spiegel der Neumen, die sich in Oberitalien ebenfalls der produktiven Anverwandlung transferierten Guts verdanken.
Sabine Ehrmann-Herfort (Rom): Migration und Madrigal. Musikalische Wanderbewegungen und das Cinquecento-Madrigal in Forenz und Rom
Bereits im Cinquecento hatte Italien auch für musikalische Migranten eine große Anziehungskraft. Insbesondere die Gattung Madrigal, die in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts entsteht, wurde durch Migrationsprozesse entscheidend geprägt. Mit dem Cinquecento-Madrigal wird eine später auch international wirkungsmächtige, genuin italienische musikalische Gattung geschaffen. Zu den ersten Generationen von Madrigalkomponisten gehörten ortsansässige Komponisten aus Florenz, aber auch »oltramontani« wie Philippe Verdelot und Jacques Arcadelt, die nach wie vor an der flämisch-französischen Kultur partizipierten, wie sie bereits die Musik des 15. Jahrhunderts in Italien bestimmt hatte. Sehr bald eignen sich freilich auch italienische Komponisten die neue Gattung an.
Im Fokus der Überlegungen sollen verschiedene musikalische Wanderbewegungen stehen: zum einen die Etablierung des Cinquecento-Madrigals in Florenz, hauptsächlich durch französische und »frankoflämische« Komponisten, zum anderen der »Export“ dieser neuen und erfolgreichen Gattung von Florenz nach Rom, wo sich nicht zuletzt aufgrund der politisch angespannten Lage eine große Florentiner Kolonie angesiedelt hatte. Rom wird zu einem wichtigen Zentrum dieser neuen Gattung. Zugleich findet auch ein Transfer von Madrigalkompositionen aus den Händen der frankoflämischen »Erfinder« in »italienische« Komponistenhände statt. Diesen verschiedenen und nur schwer zu fassenden kulturellen Räumen soll mit Blick auf die Gattung Madrigal in Florenz und Rom im Cinquecento nachgespürt werden.
Tomasz Jeż (Warschau): Die Rhedigerische Bibliothek in Breslau als Zeuge der europäischen Migration des italienischen Stils
Das Referat diskutiert die sogenannte Rhedigerische Bibliothek, die musikalische Sammlung von Ambrosius Profe (1589–1661), dem Organisten der St. Elisabethkirche zu Breslau, im Kontext der Migrationsthematik. Diese Sammlung stellt noch heute eines der wichtigsten Zeugnisse der europäischen Verbreitung des neuen italienischen Barockstils dar. Zum Zeitpunkt ihrer Kompilation war sie ein wichtiges Dokument für die Rezeption der italienischen Kompositionsart in den Werken der damals jungen Generation mitteldeutscher Komponisten und stand für den paradigmatischen Bildungsprozess eines neuen deutsch-italienischen Musikstils.
Mit dieser Sammlung lassen sich verschiedene Fragen verknüpfen. Inwieweit spiegeln die in dieser einzigartigen und bewusst zusammengestellten Kollektion vorhandenen Werke von Komponisten wie Philipp Friedrich Buchner, Caspar Endres, Caspar Kittel, Johann Rosenmüller, Johann Hermann Schein, Heinrich Schütz, Stephan Weich die stilistische Verwandtschaft wider mit den »Nachbarn aus der Bibliotheksregal«, mit Alessandro Grandi, Maurizio Cazzati, Orazio Tarditi, Giovanni Rovetta? Was für Abhängigkeiten und gegenseitige Beeinflussungen bestanden zwischen den lokalen Komponisten und den Migranten aus dem Süden, die in den Musikzentren Schlesiens und den angrenzenden Länder eine neue Beschäftigung fanden (wie Giovanni Valentini Giovanni Giacomo Arrigoni, Giovanni Felice Sances, Vincenzo Scapitta, Carlo Grossi, Biagio Marini und Tarquinio Merula), oder sie durch die Widmungen ihrer musikalischen Werke allererst suchten. Schließlich wäre auch zu diskutieren, ob – und in welchem Maße – diese Druckwerke und die ganze Sammlung als Markstein für den Prozess der europäischen Wanderbewegung des italienischen Stils gelten können. Zusätzlich sollen theoretische Aussagen von Ambrosius Profe und Marco Scacchi herangezogen werden, um Fragen der Migration von Repertoire und Musikern zu erörtern.
Richard Wistreich (Manchester): »nach der jetzig Newen Italienischen Manier zur guten Art im singen sich gewehnen«: How Italian singing technique conquered the world
It is a story so often told that it has achieved the quality of a myth: how one country – Italy, the »land of song« – in a process beginning towards the end of the sixteenth century, harnessed its native people’s apparently inborn, uniquely irresistible and extraordinarily perfectable singing style and so successfully exported it, that what Michael Praetorius in 1619 called the »Newen Italienischen Manier zur guten Art im singen« had, by the mid seventeenth century, already achieved a European-wide hegemony which remained largely unchallenged until well into the twentieth century (despite some spirited rearguard action in France and later, in Germany). Behind the myth lies, of course, a considerable amount of hard fact, testified to by a rich historiography that traces the colonisation by Italian vocality of vast swathes of European music culture, ranging from compositional genres (opera, cantata, oratorio, etc.) and human »diasporas« both out of and into Italy of singers, composers, teachers and consumers, to the meta-discourses of various specifically vocal »Italian-nesses« in constructions of different national musical identities, local performance styles and even hierarchies of taste. However, attempts to pinpoint exactly the defining »technical« substance of Italian singing that so quickly established itself as the epitome of good singing (for example in the training of German choirboys in the seventeenth century) and also the reasons why those particular features should have been equated with ›expressive refinement‹ in art singing, both within and beyond Italy, has proved notoriously elusive. This paper focuses attention right down onto the physical minutiae of one critical element of the »Italienischen Manier«, indeed of the »bel canto myth« itself: throat articulation (cantar alla gorgia) and its manifestation in the so-called »coloraturen«, of which perhaps the most famous example is the talismanic trillo. The ability to control very precisely – and display in sound – fine articulations of the vocal folds, turns out to be at the heart of a complex cultural discourse that is rooted, finally, in the integers of class. The almost magical execution of the trillo exemplifies a wider discourse of vocality which locates the singing larynx at the meeting point of virtù and virtuosity: I will trace its history as both »technique« and perennial marker of »noble« singing.
Michele Calella (Wien): Migration, Transfer und Gattungswandel: ein neuer Blick auf die Geschichte der Oper im 18. Jahrhundert
Die in den letzten Jahrzehnten in den Fokus der Forschung gerückte Vorstellung einer ständigen geographischen Bewegung von Akteuren und Texten in der Opernproduktion des 18. Jahrhunderts erweckt immer mehr den Eindruck, dass Veränderungen in der Gattungsgeschichte der Oper primär als Ergebnisse kultureller Transferprozesse zu betrachten sind. Innovationen oder vermeintliche Reformen reflektieren in der Tat Austausch- bzw. Kommunikationsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen und feste, lokale Traditionen erliegen schnell externen Einflüssen (man denke an die Tragédie lyrique der 1770er Jahre). Andererseits ist es angesichts der in vielen europäischen Gebieten selbstverständlichen Zirkulierung von Personal und Artefakten schwer, die kulturellen Räume zu unterscheiden, was an sich die Definition des »Interkulturellen« nicht einfach macht.
Im Referat wird versucht, anhand verschiedener Problemfälle einige Reflexionen über die »interkulturelle Aneignung« in der Oper des 18. Jahrhunderts zu formulieren.
Luca Aversano (Rom): Identità culturali allo specchio. L'immagine musicale di Italia e Germania all'inizio del XIX secolo
Il contributo illustra il percorso di ridefinizione delle identità musicali nazionali di Italia e Germania all’inizio dell’Ottocento. Tale processo prende avvio in un contesto internazionale di estrema vivacità, in cui gli scambi commerciali e la circolazione delle idee attraversano una fase di forte incremento. Fattori sociali ed economici interagiscono con gli aspetti più strettamente culturali, portando alla costruzione di stereotipi dialettici (ad es. natura/cultura, spontaneità/dottrina, vocale/strumentale, melodia/armonia) che contrassegnano specularmente, in parte ancora oggi, i mondi musicali italiano e tedesco. In particolare, viene esaminato il ruolo strategico degli editori italiani e tedeschi, capaci di influire contemporaneamente sui giudizi della stampa periodica, sulla migrazione dei musicisti e sulla circolazione delle musiche.
Mauro Bertola (Heidelberg): »Il Padre Eterno della musica italiana« – »In unserem Deutschland zu Hause«. Die nationale Konstruktion Palestrinas im deutschen und italienischen Rundfunkprogramm 1925
Von Johann Joseph Fuxs Gradus ad Parnassum (1725) bis Knud Jeppesens Kontrapunktlehre (1935) beruht die Rezeption der Musik von Giovanni Pierluigi da Palestrina auf einem stark etablierten Klischee: Palestrinas Schaffen wird als überzeitliches, universelles Modell eines perfekten Kontrapunkts verstanden. In seinem Stil versinnbildlichten sich die zeitlosen Züge der »wahren« Kirchenmusik oder auch generell der Musik überhaupt. Dabei scheinen bestehende konfessionelle, politische und kulturelle Grenzen keine Rolle zu spielen.
Im Jahre 1925 widmeten die römische und die Berliner Rundfunkanstalt ‑ unabhängig voneinander ‑ je ein Konzert Giovanni Pierluigi da Palestrina aus Anlass seines 400. Geburtstags. Damit fand eine Musik, die in der Frühphase des Radios sonst nur selten zu hören war, Einzug in die Rundfunkprogramme. Aus diesen beiden Sendungen geht jedoch nicht das traditionelle Rezeptionsklischee zu Palestrina hervor. Stattdessen wird der Komponist für die Vermittlung einer spezifisch deutschen bzw. italienischen Identität verwendet.
Der Vortrag wird die unterschiedliche Programmzusammenstellung beider Rundfunkkonzerte hinterfragen und ihre differierenden Strategien für eine nationale Aneignung des Komponisten untersuchen. Die Sendungen werden als Resultat eines Prozesses der nationalen Kodierung der Figur »Palestrina« gedeutet, die sich ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert für beide Länder nachzeichnen lässt. Am Beispiel der beiden Programme wird damit die zentrale Rolle der (Musik‑)Geschichte für die Konstituierung und Vermittlung kollektiver Identitäten verdeutlicht.
Lars-Christian Koch (Berlin): Mobilität und Kulturtransfer in Prozessen musikkultureller Migrationen zwischen Europa und Südasien
Mit Beginn der Kolonialzeit setzte eine deutlich erhöhte Mobilität in einzelnen europäischen Ländern ein, was nachhaltigen Einfluss auf das Musikleben in den Kolonien und den Ursprungsländern hatte. Am Beispiel Südasien – mit einem starken Fokus auf die in bedeutender Weise durch den Kolonialismus geprägten Stadt Kolkata – sollen die vielfältigen kulturellen Transferprozesse zwischen unterschiedlichen musikalischen Lebenswelten seit dem späten 18. Jahrhundert untersucht werden. Ausgehend vom Musikleben im Kolkata dieser Zeit werden die Aneignung kulturellen Wissens und kultureller Identitäten durch die Kolonialmächte im 19. Jahrhundert, deren politische Motivationen und kulturelle Auswirkungen ebenso untersucht wie die Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutend werdende Tonträger-Industrie. Der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt in diesem Beitrag auf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Wendepunkt wird dabei die Unabhängigkeit Indiens gesehen, sie ermöglichte auch durch eine erhöhte Mobilität innerhalb kultureller Räume eine erweiterte Perspektive auf das interkulturelle Handeln im Spannungsfeld europäischer und südasiatischer Musikkulturen. Dies hatte Auswirkungen auf unterschiedlichen sozialen und kulturellen Ebenen und wird besonders im 21. Jahrhundert im Bereich der Popularmusik und der zeitgenössischen Musik deutlich.
Mobilität und Identität sollen in diesem Zusammenhang als Phänomen von physischen, sozialen und kulturellen Transfers in einem übergreifenden, vielschichtigen Prozess kultureller Migrationen beschrieben werden.